Raphael Ineichen 16.06.2022
Aus HR Today Nr. 6&7/2022: Recruiting & Employer Branding
Seit jeher geht die Personalabteilung davon aus, dass sie für die Personalbeschaffung zuständig ist. Weshalb ich das infrage stelle, habe ich in meinem Blogartikel «Warum sich HR aus dem Recruiting zurückziehen sollte» Anfang 2021 ausführlich dargelegt. HR und Talent Acquisition mögen zwar oft unter demselben Dach organisiert sein, sind aber zwei eigenständige Disziplinen mit eigenständigen Mitarbeitenden (HR Spezialisten beziehungsweise Recruiter oder Talent Acquisition Spezialisten). Die Zeiten, in denen HR das Recruiting noch so nebenbei erledigen konnte, sind längst vorbei – und das wird auch so bleiben.
Talent Acquisition weist viele Parallelen zu Sales & Marketing auf und befasst sich mit den Prozessen BEVOR ein Talent zum Mitarbeitenden wird. HR hingegen ist verantwortlich für die Prozesse WÄHREND ein Talent Mitarbeitender ist. HR sorgt also dafür, dass der Mitarbeitende das «Produkt» – in diesem Fall der Job, den der Mitarbeitende ausgefüllt – möglichst lange konsumiert beziehungsweise nutzt. Das «Kundenerlebnis», das der Mitarbeitende in dieser Zeit erlebt, nennt sich neudeutsch Employee Experience.
Unterschiedliche Aufgaben erfordern auch unterschiedliche Werkzeuge, weshalb eine Talent Acquisition Rolle mit den klassischen HR Tools in der Regel schlecht bedient ist. Sehr oft gibt es einen grossen «Disconnect» zwischen der Technologie, welche die IT-Abteilung will (beispielsweise «wir fahren eine SAP-Strategie»), die das HR Management will und dem, was Recruiter brauchen, um ihre Aufgaben optimal zu erfüllen. Wenn die Recruiter nicht über die nötigen Tools verfügen, müssen sie nicht nur mit der Menge an offenen Stellen umgehen, die sie zu bewältigen haben, sondern auch mit dem Stress und der Frustration, mit denen sie dadurch konfrontiert sind. Nun, sie werden aktuell rasch einen Job finden, der ihnen die nötigen Tools und moderne Technologie bietet, denn gute Recruiter sind heute gesuchter als Software-Entwickler.
Mit wenigen Ausnahmen ist HR Technologie für die Personalabteilung entwickelt worden, mit dem Zweck die Prozesse der HR-Abteilung zu vereinfachen. Die Bedürfnisse von Bewerbenden sind dabei im besten Fall zweitrangig. Dass gewisse HR-Systeme ein ATS Modul (Applicant Tracking System) integriert haben, macht die Sache nicht besser. Der Name dieser Systeme sagt ja eigentlich schon alles: Applicant Tracking System. Wenn Sie keine Bewerbenden haben, können sie auch nichts tracken. Damit jemand überhaupt zum Bewerbenden (Applicant) wird, muss vorher schon ganz vieles ganz gut gemacht worden sein – das ATS trägt dazu kaum etwas bei, sonst würde es ja Talent Attraction System heissen. Heisst es aber nicht, weil es das nicht ist: im Gegenteil. ATS sind zum Managen von Bewerbenden gemacht, nicht zum Vermarkten von Jobs und nicht zum Generieren von guten Kandidaten. Viel zu oft (habe ich Login gehört?) sorgen sie sogar dafür, dass sich Kandidaten NICHT bewerben.
Wenn Ihre Recruiter also versuchen (müssen), ihre Recruiting Prozesse in einem System abzubilden, das nicht ausdrücklich für diesen Zweck entwickelt wurde, kann das zu einer Vielzahl unerwünschter Effekte führen, die von einer schlechten Candidate Experience bis hin zu einer geringeren Produktivität der Recruiter reichen. Deshalb braucht Talent Acquisition einen eigenen TechStack. Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, dass die Bedürfnisse von HR und Talent Acquisition aus einem einzigen System heraus adressiert werden können. Es ist auch überhaupt nicht nötig. Wenn Sie dann irgendwann täglich zehn Leute einstellen, können Sie immer noch eine technische Integration zwischen HR und Talent Acquisition Systemen machen.
Konnte ich Sie überzeugen? Sie wollen eine dedizierte Lösung für die Talent Acquisition? Gut! Sie werden sich vielleicht fragen, wo Sie jetzt genau anfangen sollen. Ein guter Anfang ist, die Anforderungen an Ihre Talent Acquisition Technologie entlang der Phasen der Candidate Journey abzubilden.
Jede Phase hat ihre Eigenheiten und braucht entsprechende Tools, andere Werkzeuge sind phasenübergreifend wie beispielsweise die Karrierewebseite (Phase 2-4). Versuchen Sie auch, sich von bestehenden Prozessen zu lösen und denken Sie aus Sicht potenzieller Kandidaten. Wie durchlaufen Bewerbende den Prozess, was brauchen sie, was brauchen wir, welche Bewerbungen brauchen wir? Wie würde ein idealer Prozess aussehen – sowohl aus der Sicht des Bewerbenden, der Linie, des Personalleitenden und des Recruiters? Und welche Funktionalität beziehungsweise Technologie braucht es in welcher Phase? Wenn das klar ist, geht es an die Umsetzung. Für den Technologie Stack, den Sie für eine erfolgreiche Mitarbeitergewinnung auswählen, gibt es im Prinzip drei Optionen.
Option 1: ein integriertes Standardsystem
Dieser Ansatz ist wohl am weitesten verbreitet. Sie kaufen ein Standardsystem von einem Anbieter, welcher verschiedene Module bietet (von Personaladministration über Payroll bis Recruiting). So müssen Sie sich nur mit einem einzigen Anbieter rumschlagen, haben aber mit der jeweiligen Funktionstiefe zu leben, welche die einzelnen Module bieten. Diese mögen für gewisse Themen bestimmt einen guten Job machen, werden aber nie alle Bereiche vollends begeistern. Eine einzigartige Arbeitgeberpositionierung und Candidate Experience, die wirklich verfängt, ist damit schwer zu erreichen.
Option 2: Ein höchst individuelles und einzigartiges System bauen
Früher war es eine Herkules-Aufgabe, verschiedene Tools und Technologien miteinander zu verknüpfen. Heute haben moderne Systeme Schnittstellen (APIs) und es gibt günstige Integrationsmöglichkeiten über Tools wie beispielsweise Zapier. Wenn Sie sich Ihren individuellen Technologie Stack zusammenstellen, können Sie einen «Best-of-Breed»-Ansatz verfolgen. Sie vereinen viele verschiedene Tools, die in ihrer jeweiligen Disziplin top sind. Dieser Ansatz deckt nicht nur Ihre individuellen Bedürfnisse optimal ab, sondern ermöglicht es Ihnen, sich als Arbeitgebender klar von Ihren Mitbewerbenden abzugrenzen. Zudem bleiben Sie flexibel und können Ihr System auf sich verändernde Bedürfnisse anpassen. Zugegeben, Option 1 hört sich einfacher an, aber darum geht es gar nicht. Es geht, um die Sicherstellung die richtigen Talente für Ihr Unternehmen zu gewinnen.
Option 3: Ein hoch individualisierbares System als Service beziehen
In Zeiten von SaaS (Software as a Service) gibt es auch einen Mittelweg zwischen Option 1 und 2. Wenn Sie das Know-how ein individualisiertes System zu bauen intern nicht haben, suchen Sie sich einen Dienstleister, der solche individualisierten Systeme für Kunden baut und betreibt. Dieser kennt die verschiedenen Touchpoints entlang der Candidate Journey, weiss welche Tools und Technologien es in welcher Phase gibt und versteht es, diese zu orchestrieren und zu integrieren. Sie profitieren von der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Systems und den Erfahrungen, die andere Kunden schon gemacht haben.
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