Raphael Ineichen 10.02.2022
Aus dem HR Today Blog vom 10. Februar 2022
Wir sollten neu darüber nachdenken, wie wir die Menschen sehen, die wir für unsere Unternehmen gewinnen möchten und die jeden Tag zur Arbeit kommen.
Es gibt immer weniger Menschen, die einfach einen Job ausüben, nur um Geld zu verdienen. Zumindest nicht unter denjenigen, welche über eine solide Ausbildung verfügen oder eine gefragte Berufserfahrung zu bieten haben. Weil der Fachkräftemangel unterdessen fast alle Branchen erreicht hat, gilt dies längst nicht mehr nur in den Bereichen Ingenieurwesen, Technik oder Informatik. Wenn man jedoch beobachtet, wie diletantisch viele Unternehmen immer noch rekrutieren, entsteht der Eindruck, dass weder ihre Gesamtstrategie noch ihr Standard-Rekrutierungsansatz dieser Realität Rechnung tragen.
Früher war es so, dass eine offene Stelle Macht bedeutete: Manager konnten von völlig Fremden Gehorsam und Loyalität abverlangen. Sie konnten alle Bedingungen diktierten: wie Bewerber ihren Lebenslauf gestalten sollten, dass ein Motivationsschreiben verlangt wird, welche sinnlosen Fragen gestellt werden (mögen Sie lieber Katzen oder Hunde?) und Bewerbende im Dunkeln lassen, in der Erwartung, dass sie ruhig darauf warten, bis ein Angebot ausgesprochen wird.
Es wurden riesige Systeme aufgebaut und installiert, um Talente anzuziehen, zu sammeln und zu selektieren, die auf der Vorstellung basieren, dass die Recruiter klug, weise und gut sind, die Bewerbenden aber immer etwas zu verbergen haben. Lebensläufe und Zeugnisse wurden wie ein Alfred-Hitchcock-Drehbuch hinterfragt, auf der Suche nach einer Mordwaffe und einem Motiv, mit dem sie eingesetzt werden kann. Man suchte nach Absagegründen und nicht nach Passung zum Job)Aber das ist ja heute bestimmt nicht mehr so…
Wenn dann ein Bewerber auserwählt wurde, sollten alle die Vergangenheit ruhen lassen. Was mit ungeschminktem Misstrauen und Unglauben begann, soll sich nun auf magische Weise in Vertrauen und ein Engagement verwandeln? “Die Kandidaten sind im Driver-Seat” oder “derzeit herrscht ein Arbeitnehmer-Markt” hört man oft. Dabei schwingt nicht selten ein Unterton mit, dass diese Machtverschiebung eine temporäre Verirrung ist, ein Sturm, den wir überstehen müssen, bis die Dinge wieder "normal" werden. Doch DAS wird nicht passieren. Der schnellste Weg zum Umdenken ist deshalb, diese Menschen nicht mehr als Kandidaten oder Angestellte zu betrachten, sondern als Freiwillige.
Sie kommen jeden Morgen freiwillig zu uns. Sie geben freiwillig ihren Effort und ihre Aufmerksamkeit. Sie erscheinen freiwillig, um sich um die vor ihnen liegende Aufgaben zu kümmern. Sie haben viele Wahlmöglichkeiten und müssen sich daher aktiv dafür entscheiden, für Sie zu arbeiten. Wenn Sie sie so behandeln, als seien sie Ihnen irgendwie verpflichtet (schliesslich erhalten sie ja ein Gehalt!), werden Sie wahrscheinlich enttäuscht werden.
Menschen engagieren sich nicht freiwillig an Orten, die ihnen gleichgültig sind. Fragen Sie doch mal jemanden, der ehrenamtlich in einer Schule, einem Verein oder einer Suppenküche arbeitet. Jede einzelne Person hat einen ziemlich gut artikulierten Grund, warum sie dort ist. Sie hat sich entschieden, dort aufzutauchen und diese Aufgabe zu übernehmen. Ob sie dafür bezahlt wird oder nicht, die Arbeit oder das Ziel bedeutet ihr etwas. Sie hat die Entscheidung getroffen, dies zu tun. Niemand möchte an einem Ort arbeiten, den er verabscheut. Niemand wacht auf und fragt sich, wie er seinen Job noch unangenehmer machen kann. Und doch sind die Statistiken kristallklar: Viele Menschen sind bei der Arbeit nicht engagiert. Wer ist jetzt schuld daran?
Wenn Sie sich die Einstellung zu eigen machen, Mitarbeitende und Bewerbende wie Freiwillige zu behandeln, werden Sie besser in der Lage sein, Talente anzuziehen und zu halten. Denn diese haben immer die Wahl, sich alternativ für ein anderes Unternehmen zu entscheiden.
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